Zum Inhalt springen

über die Therapie

Interessanter Artikel:

Craniosacral-Therapie: Hand auflegen, ärztlich empfohlen | Die Weltwoche, Ausgabe 45/2001 |

Osteopathie und Craniosacral-Therapie drängen in die Spitäler. Niemand weiss, wie die Methoden wirken, aber selbst Schulmediziner lassen sich so behandelnVon Hanspeter Bundi Der Gynäkologe mit gutgehender Praxis in Zürich leidet unter schweren Konzentrations- und Gedächtnisschwierigkeiten, unter Kopfschmerzen und Gefühlsstörungen. Es sind klassische Symptome eines Schleudertraumas. Ein Jahr lang laboriert er selber daran herum – schliesslich sucht er entnervt eine Craniosacral-Therapeutin auf. Seine Skepsis scheint sich zu bestätigen, denn die macht, so jedenfalls sieht es von aussen aus, nichts mit ihm. Brigitte von Wenzl Eglin nimmt seinen Kopf in ihre Hände, tastet die Wirbelsäule ab, bewegt die Hand leicht, kaum sichtbar, tastend manchmal, und nach sechs Wochen sind die Beschwerden weitgehend verschwunden. Ein Fall, wie er in der Craniosacral-Therapie (CST) häufig vorkommt. «Sie wissen ja», witzelt der Gynäkologe, «in meinen Kreisen nennt man das, was Sie tun, Zauberei.»


Brigitte von Wenzl Eglin erlebt immer wieder, dass sich Ärzte an sie wenden oder ihr Patienten schicken, als letzten Ausweg sozusagen. Die Ärzte der Kopfweh- und Schmerzsprechstunde am Universitätsspital Zürich arbeiten regelmässig mit CS-Therapeuten zusammen. Peter Sandor, Arzt an der Neurologischen Universitätsklinik, schreibt in einem Kommentar: «Die Craniosacral-Therapie lässt sich zurzeit im Rahmen der aktuellen Theoriegebäude der Schulmedizin, an die wir uns im Wesentlichen halten, nicht erklären. Gleichwohl berichten manche Patienten über eine gute Wirksamkeit.» 

Man weiss zwar nicht, wie es funktioniert, aber es funktioniert – ein zentraler Satz in der Erfahrungsmedizin. Anders als in der Schulmedizin, wo das Zusammenspiel von Körper, Krankheitserreger und Medikament bis auf Molekülebene hinunter ausgeleuchtet und gemessen ist, weiss man hier oft nur wenig darüber, was genau bei einer Behandlung im Körper passiert. Man ist auf Vermutungen, Hypothesen und philosophisch geprägte Bilder angewiesen. Die CST, eine von mehreren Therapieformen auf dem mittlerweile weiten Feld der Osteopathie, macht da keine Ausnahme.

Die osteopathische Medizin geht auf den amerikanischen Arzt Andrew Taylor Still zurück. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts postulierte Still, Krankheiten seien auf kleinste Verschiebungen und Unregelmässigkeiten im Skelett zurückzuführen, die den ganzen Körper in ein Ungleichgewicht bringen. Daher auch der Name Osteopathie: Krankheit, die von den Knochen kommt. Diese Krankheit wurde von Still nicht als Einbruch fremder Elemente in den Körper definiert, sondern als Störung seiner Fähigkeit zur Selbstheilung. In ihren Behandlungen versuchen die Osteopathen seither, die Unregelmässigkeiten in Skelett und Muskulatur zu ertasten und auszugleichen. Sie tun dies nicht mit den oft spektakulären Massnahmen der Chiropraktik, sondern mit feinen und manchmal kaum wahrnehmbaren Handbewegungen.

In den Vereinigten Staaten hat die Osteopathie die anfängliche Ablehnung überwunden und sich parallel zum allopathischen Medizinsystem etablieren können. Es gibt osteopathische Universitäten, osteopathische Spezialärzte, osteopathische Kliniken, in denen nahezu alle Krankheiten und Behinderungen behandelt werden. In der Schweiz sind die allgemeinen Osteopathen noch nicht so weit. Sie haben in den Universitäten noch nicht Fuss gefasst, aber an der Schweizer Schule für Osteopathie in Belmont bei Lausanne wird ein fünfjähriger Vollzeit-Lehrgang angeboten, zu dem sich jedes Jahr dreissig bis vierzig Studenten einschreiben. Vertreter von Osteopathen rund um die Lausanner Schule arbeiten darauf hin, dass «Osteopath» als medizinischer Beruf eidgenössisch anerkannt wird und die Osteopathie, ähnlich wie die Homöopathie oder die Chiropraktik, in den Grundversicherungskatalog der Krankenkassen aufgenommen wird. Sie distanzieren sich dabei aber vehement von der Craniosacral-Therapie.

Die CST versteht sich ebenfalls als osteopathische Disziplin, beruft sich dabei aber nicht nur auf Still, sondern auch auf William Garner Sutherland, einen seiner Schüler. Sutherland machte im Verlauf seiner osteopathischen Therapiearbeit die Entdeckung, dass Gehirn, Rückenmark und die zerebrospinale Flüssigkeit eine Eigenbewegung haben und in einem Rhythmus pulsieren, der weder mit dem Atem- noch mit dem Herzrhythmus etwas zu tun hat. Sutherland sprach vom «Primärrhythmus», und er meinte, dass sich dieser im ganzen Körper ausbreitet und nur dort nicht zu ertasten ist, wo eine Störung vorliegt, eine Krankheit oder eine alte Verletzung. Der CS-Therapeut versucht, diese Knoten und Stauungen durch Berührung zu lokalisieren und durch minuziös beschriebene Mobilisierungen zu lösen, damit der Körper wieder im Primärrhythmus pulsieren und sich selber heilen kann. Sutherland glaubte zudem entdeckt zu haben, dass der Schädel mit diesem Rhythmus seine Form verändert.

Mit seinen Entdeckungen oder Behauptungen verletzte Sutherland die klassische medizinische Lehre gleich zweimal. Erstens war und ist den schulmedizinischen Forschern nichts von einem Primärrhythmus bekannt, und zweitens gilt dort als Lehrsatz, dass die Knochenplatten des menschlichen Schädels spätestens ab dem 28. Lebensjahr fest und unbeweglich ineinander verzahnt sind. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn die Craniosacral-Therapie im schulmedizinischen System auf Ablehnung stösst. Die anerkannten Erfolge, vor allem bei Kopfschmerzen, bei Rückenproblemen, Schwindelattacken und Depressionen, erklärt man sich hier mit dem Placebo-Effekt. Obwohl die Bezeichnung «craniosacral» nichts mit «heilig» zu tun hat, sondern den Bereich zwischen dem Schädel (cranium) und dem Kreuzbein (sacrum) bezeichnet, tun die meisten klassischen Mediziner die CST als Esoterik und Geistheilerei ab.

Einer der hiesigen CST-Lehrer ist Rudolf Merkel. Bei seiner Tätigkeit als Kinderarzt in Deutschland suchte er nach Alternativen zur Schulmedizin, stiess auf die Craniosacral-Therapie und erzielte damit bei Schreikindern, das heisst den Säuglingen, die in den ersten Lebensmonaten oft stundenlang schreien, überraschende und zum Teil unerklärliche Erfolge. So lassen sich vier Fünftel aller Säuglinge, die an Dreimonatskrämpfen leiden, in ein oder zwei Behandlungen heilen, bei denen der Therapeut nichts anderes tut, als den Kopf des Säuglings zu halten und die Schädelplatte mit unsichtbar feinen Bewegungen zu mobilisieren. Damit, sagen die CS-Therapeuten, würden minime Verschiebungen der Schädelstruktur korrigiert, die sich im Verlauf der Geburt ergeben haben. Ausserdem werde der Primärimpuls oder, wie es heute heisst, der craniosacrale rhythmische Impuls stabilisiert.

Die CS-Therapeuten können zwar detailliert beschreiben, an welchen Schädelstrukturen sie gearbeitet haben, aber auch sie können die Erfolge nicht restlos erklären. Rudolf Merkel unterscheidet zwischen strukturellen und nichtstrukturellen Bereichen der Osteopathie. Da ist zum einen die Lehre von den Fehlstellungen des Skeletts und Verhärtungen des Bindegewebes, eine wissenschaftlich fundierte Theorie, die an den osteopathischen Universitäten der USA und an der Lausanner Schule gelehrt wird. Zum strukturellen Teil der CST gehörten, sagt Merkel, auch das Wissen um die Beweglichkeit der Schädelplatten und präzise Kenntnisse über die Techniken zu ihrer Mobilisierung. Zum nichtstrukturellen Teil der CST rechnet er Theorien über Primärimpuls und über elektromagnetische Wirkung der Hände. Nicht strukturell sind auch die intuitiven und empathischen Anteile der Beziehung zwischen Therapeut und Patient.

Merkel weiss, wo die naturwissenschaftlichen Lücken der CST zu orten sind, und er gibt zu, dass vieles noch unerklärlich sei. In seinen Kursen versucht er immer wieder neu den Balanceakt zwischen Wissen und Intuition, zwischen anatomischen Kenntnissen und fast meditativen Erfahrungen. Die Osteopathen der Lausanner Schule, sagt er, hätten sich von diesem Balanceakt distanziert und sich ganz auf den wissenschaftlich fundierten Teil konzentriert. «Damit verliert die Osteopathie viel von ihrer ursprünglichen Kreativität. Die Craniosacral-Therapie hingegen nimmt die manchmal spekulativen und kreativen Teile mit. Mit dem Vorwurf, unwissenschaftlich zu sein, müssen wir, müssen alle erfahrungsmedizinischen Methoden leben.» Wenn Merkel trotzdem darum kämpft, im schulmedizinischen System akzeptiert zu werden, geht es ihm nicht um die Aufnahme in den Katalog der Grundversicherung, sondern darum, dass die craniosacrale Osteopathie Eingang in den medizinischen Diskurs findet, dass sie kritisiert und mit Forschungen begleitet wird.

Wie eine solche Forschung aussehen müsste, ist unklar. In der schulmedizinischen und vor allem in der pharmakologischen Forschung gelten interindividuelle Elemente als Fehlerquellen und müssen daher möglichst ausgeschaltet werden. In der CST und in vielen anderen erfahrungsmedizinischen Techniken und Verfahren sind diese interindividuellen Elemente aber zentraler Teil der Arbeit. Trotzdem: Die Tatsache, dass die craniosacrale Therapie funktioniert, müsste die medizinischen Forscher eigentlich herausfordern. Hinweise auf Placebo-Effekte reichen da nicht mehr aus. «Für die langfristige Anerkennung der Craniosacral-Therapie ist weniger der theoretische Hintergrund entscheidend als vielmehr der Wirksamkeitsnachweis», sagt Merkel. Im Rahmen der Zusatzversicherungen haben die meisten Krankenversicherer diese Anerkennung schon geleistet und entgelten sowohl allgemein osteopathische Behandlungen wie auch die Arbeit von Craniosacral-Therapeuten.